Nachdem Abbas Khider vor drei Wochen mit seiner Lesung aus ,Brief aus der Auberginenrepublik‘ (hier mein Bericht) die diesjährige LiteraTour Nord in Lübeck eröffnen durfte, folgte am gestrigen Abend Ralph Dutli. Mit dem gebürtigen Schweizer ging auch der erste Buchpreisanwärter dieses Jahres ins Rennen um den Preis der LiteraTour Nord. Im Kellergewölbe des Lübecker Buddenbrookhauses las Ralph Dutli aus seinem ersten Prosawerk ,Soutines letzte Fahrt‘, aus seiner geschickten Verquickung von Realität und Fiktion rund um den weißrussischen Maler Chaim Soutine. Soutine blieb zeit seines Lebens eher unbekannt und unentdeckt. Einige wenige sahen zwar bereits zu Lebzeiten sein Talent, insgesamt blieb der stille und gequälte Chaim Soutine doch immer im Schatten seiner großen Weggefährten – Modigliani, Picasso, Chagall.
An einem offenen Magengeschwür leidend wird Soutine im Winter ’43 in einem Leichenwagen zu einer lebensnotwendigen Operation nach Paris gebracht. Um den französischen Kontrollen zu entgehen, wählte man ein eher ungewöhnliches Vehikel, – die Aussagen darüber, ob es sich nicht doch um einen konventionellen Krankenwagen gehandelt habe, gehen, wie Dutli selbst sagt, an der einen oder anderen Stelle auseinander. Er brauchte jedoch für die Fiktion, für das, was er erzählen wollte, eher den Leichenwagen, sagt der Autor lächelnd. Während dieses Transports verabreicht man ihm Morphium. Einerseits natürlich, um seine Schmerzen zu lindern, andererseits um ihn ruhigzustellen. Im Fieber und Morphinrausch beginnt er zu halluzinieren, von Vergangenheit und Gegenwart, von seiner Kindheit im russischen Smilavichy und seiner Ankunft im pulsierenden Paris.
Schon als Ralph Dutli zu lesen beginnt, wird deutlich, dass seine sonore Stimme sanft durch die Geschichte tragen wird. Betont, deutlich und langsam führt Dutli in drei verschiedenen Blöcken rund fünfundvierzig Minuten in seinen Roman. Von der besänftigenden Wirkung des Morphins über die Fantasien von einem Weißen Paradies ist Dutlis bildreiche Sprache in Verbindung mit seiner Stimme so einnehmend, dass man sich unweigerlich hineinversetzt fühlt in diesen Roman. Besonders das Weiße Paradies (auch Titel eines Kapitels) sei ihm als Bild sehr wichtig gewesen, betont Dutli. Er habe nicht nur einen biographischen Roman über Chaim Soutine schreiben wollen, schließlich habe er bereits die Dichterbiographie über Ossip Mandelstam geschrieben und man steige bekanntlich nicht zweimal in denselben Fluss – er habe auch eine Geschichte über das Leben schreiben wollen, eine Art Gleichnis. Weiß spielt bei Soutine eine große Rolle, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit seinem Magengeschwür, das sich zu mancher Zeit nur noch durch mit Bismuthpulver versetzte Milch besänftigen ließ. Weiß bedeutet Schmerzfreiheit, Heilung, Reinheit – doch um welchen Preis?
Dem Maler wird das Malen untersagt, in seinem weißen Paradies. Er liegt auf weißen Laken, nimmt ausschließlich weiße Nahrung zu sich, ,aus dem Ei hatten sie das Eigelb entfernt‚. Als nach der Lesung ein Gast vorsichtig fragte, ob ein Maler sich das Paradies denn, nach Dutlis Dafürhalten, weiß vorzustellen habe, antwortet der, dass es eine unangenehme Vorstellung des Paradieses sei. Nicht nur für den Maler. So sei das Leben doch geprägt von Farben verschiedenster Facetten, – und so spielen diese Facetten und Spielarten von Farbe auch im Roman eine große Rolle -, es sei in dieser weißen Sterilität doch letztlich unerträglich, dem Tod näher als dem Leben. Auch im der Lesung folgenden Gespräch erschließt sich so manches Bild des Romans, so manches Detail. Vor jeder Passage, die er liest, erläutert Dutli kurz, worum es geht, verleiht dem Text zusätzlich Tiefe. So erläutert er auch, der Name des auftretenden Dr.Bog bedeute im Russischen Gott. Ralph Dutli hat Russistik studiert, zehn Jahre in Paris gelebt. Das verbindet ihn gewissermaßen mit dem russischstämmigen Soutine, wie er selbst zugibt. Eine glückliche Fügung.
Er habe schon lange vorgehabt, über Chaim Soutine etwas zu schreiben, jedoch fehlte ihm stets der richtige Zugang. In Paris nahe dem Friedhof lebend, auf dem Soutine begraben liegt, gelangte er einerseits durch die Spaziergänge in der Umgebung, andererseits aber auch über das stilistische Instrument des Morphins zum Eingang in die Geschichte. Das Morphin, wie Dutli sagt, eröffnete ihm ganz andere Möglichkeiten, die Halluzinationen des Malers ermöglichen Vieles, was sonst jeder Chronologie oder Wahrscheinlichkeit zuwidergelaufen wäre. Ein rundum gelungener Abend endet mit dem Signieren seiner Bücher und dem ein oder anderen Gespräch, für das sich Ralph Dutli auch gern die Zeit nimmt. Obwohl ich seinen Roman bereits im Rahmen von ‚5 lesen 20‘ besprochen hatte (hier nachzulesen), wirkte die Lesung angenehm erweiternd und ergänzend, was nicht zuletzt Ralph Dutlis famosen Vortragsqualitäten zu verdanken ist.