Navid Kermani – Ausnahmezustand


Kermani

Navid Kermani ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und studierter Orientalist. Als Sohn iranischer Eltern studierte er Theaterwissenschaft, Philosophie und Orientalistik in Köln, Kairo und Bonn. Von 2006 bis 2009 war Kermani Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. 2011 wurde er für seine politischen und religionswissenschaftlichen Analysen mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet, außerdem im selben Jahr mit Dein Name für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Seit Jahren setzt sich Navid Kermani gegen Engstirnigkeit, gegen Vorurteile, gegen Verblendung religiöser, aber auch ganz weltlicher Art ein, gegen eine zunehmende Abkehr von religiösen Inhalten in der westlichen Welt. Wo Religion und Spiritualität hier überdauert haben, sind sie häufig fundamentalistisch und dogmatisch – auch in Europa, wo rund um den Vatikan noch immer Exorzisten praktizieren – oder aber ins Esoterische abgedriftet. Mit Tarotkarten, Runen und Pendeln zum eigenen Ich und wieder zurück. In den Ländern, die Kermani für seine Reportagen besucht hat, hat Religion noch einen ganz anderen Stellenwert, einen existentiellen. Schon seit Jahren fährt er im Auftrag zahlreicher Zeitungen (darunter die NZZ, die Süddeutsche oder Die Zeit) in Länder und Regionen, die heute vermutlich niemand von uns mehr freiwillig aufsuchen würde. Er reist nach Kaschmir, Delhi und Gujarat, nach Pakistan, Afghanistan, Teheran und Palästina, nach Syrien und Lampedusa, eines der größten „Flüchtlingsauffanglager“ Europas.

Dort spricht er nicht nur mit den Wortführern zahlreicher Bewegungen, er spricht auch mit den Menschen auf der Straße, befragt sie zu dem Schicksal ihres Landes, in dem nicht selten Krieg, Hunger und Elend das tägliche Leben beherrschen. Wir hier in Deutschland sind weit entfernt von den Unruhen, von Selbstmordattentätern und Demonstrationen. Hin und wieder flimmert uns ein Bild in den Abendnachrichten entgegen, von ausgebrannten Autos und verzweifelten Menschen, die ihre Hände gen Himmel recken, Bilder von bewaffneten Taliban, die in ihrem Land mitnichten die Unterstützung finden, die man uns gelegentlich suggeriert. Seit dem 11. September 2001 ist alles, was muslimisch ist oder aussieht für viele eine potentielle Bedrohung ihrer westlichen Werte. War Afghanistan in den 60er und 70er-Jahren noch ein beliebter und hofierter Handelspartner Deutschlands, änderte sich das über die Jahrzehnte gänzlich. Fuhr man damals auch noch gern in die Länder des Orients, um Architektur und Kultur zu bestaunen, ist heute nicht viel davon übrig – und wenn, außer den im Land stationierten Soldaten und Hilfstruppen kommt sowieso niemand mehr. Alles Terroristen, alles Fundamentalisten, unter jedem Turban ticken die Bomben.

So mag nicht jeder denken, bei vielen sind diese medial geschürten Vorurteile aber Teil eines einfachen Lebenskonzepts, das klar in gut und böse unterteilt. Navid Kermani liefert mit seinen Reportagen Einblicke in die jeweiligen Länder, in die Köpfe der Menschen und zeigt, dass dort mitnichten alles so eindimensional ist, wie es von außen oft den Anschein erweckt. Vor vielen Jahren, ich war noch zu klein, um mich ernstlich dafür zu interessieren, was in diesen Ländern geschieht, fragte ich einmal ganz ernst: Warum kämpfen die da? – und ich bekam die ernüchternde Antwort: Das wissen die selbst nicht mehr so genau. Kermani zeigt deutlich: Das wissen sie. Sie kämpfen für das, was wir haben, für Demokratie, Freiheit und Frieden, für das, was wir einerseits angeblich unterstützen, andererseits aber durch Waffenlieferungen und Kollaboration mit extremistischen Truppen verhindern. Vielfach aus wirtschaftlichen Gründen – zur Erhaltung unseres Wohlstandes.

Besonders beeindruckend die Impressionen aus Afghanistan – und die stete Stagnation der „Aufbauarbeiten“.

– Also wenn ich manchmal über alles nachdenke, dann wundere ich mich schon, sagt der Küchenchef, als ich mich nach dem Abendessen zu ihm und seinen nepalesischen und indischen Angestellten setze.
– Worüber?
– Über alles halt, wie das so läuft. Wir sind hier in Afghanistan, aber mit Afghanistan hat das nichts zu tun, das Obst aus Südamerika, das Schnitzel aus Deutschland, das Wasser vom Persischen Golf, die Köche aus Nepal.
– Da haben Sie wohl recht.
– Aber richtig verrückt wird es erst bei den Amerikanern in Bagram.
– Wieso?
– Die gehen so weit, die lassen Hummer aus Kuba einfliegen! Aus Kuba! Stellen Sie sich das mal vor.
Dann zuckt der Küchenchef, der gern mehr Afghanen einstellen würde und an dem es nun wirklich nicht liegt, dass das Land nicht vorankommt, melancholisch die Schultern. Aber woran liegt es?

Kermani gelingt es, an vielen verschiedenen Stellen Schwierigkeiten und Mängel in der internationalen Zusammenarbeit, in der Zielsetzung und der Umsetzung der Soldaten/der ISAF in Afghanistan aufzuzeigen. Er spricht mit Israelis und Palästinensern, die, ausgelaugt vom Konflikt am Gazastreifen, weit entfernt von jeder Einigung und jedem Kompromiss sind.

Am Checkpoint vor Gaza, der so monströs ist wie früher die innerdeutschen Grenzübergänge, nur dass die Palästinenser nicht in Autos sitzen, sondern wie Schweine rennend durch die Schleusen geschickt werden, fragte mich ein israelischer Soldat, was ich denn dort verloren habe. Ob ich Tierarzt sei.

Das Leid, das viele dort erdulden, ist unvorstellbar. Diese Länder sind innerlich zerrissen, nicht nur durch das Volk und die jeweiligen Machthaber, auch durch die Bevölkerung selbst geht ein tiefer Riss, der verschiedene Glaubensrichtungen, Menschen verschiedener Herkunft und Überzeugung so scharf voneinander separiert, dass es fraglich ist, ob sie jemals wieder zueinander finden. Navid Kermani liefert mit Ausnahmezustand – Reisen in eine berunruhigte Welt einen wichtigen und essentiellen Beitrag zum besseren Verständnis und zur Annäherung an Konflikte, die unseren in wenig nachstehen, an Menschen, die sich von uns in ihren Wünschen ausnehmend wenig unterscheiden. Nur hinsehen muss man, einmal mehr vielleicht auch, um die Knäuel zu entwirren, die schon so lange in sehr vereinfachter Form an uns herangetragen werden. Es gibt nicht nur einen Schuldigen, nicht nur gute und schlechte Motivationen. Diese Reportagensammlung umfasst Berichte aus den Jahren 2005 bis 2012, aus neun verschiedenen Ländern und Regionen. Lesenswert, interessant, erhellend und erschütternd hat Navid Kermani seine Impressionen zusammengetragen, die ich jedem (politisch) Interessierten nur ans Herz legen kann. Sie machen aus den „Nachrichtenmenschen“ wieder welche, die uns nahe sind.

Der 11. September 2001?
– Ich weiß nicht, wer so etwas tut und warum, seufzt der Hadschi: Ich weiß nur, dass wir Afghanen dafür büßen mussten, alle Afghanen. Wissen Sie, wir sind kein Volk ohne Geschichte. Wir hatten aufrechte Führer, wir hatten Dichter, wir hatten ein Ansehen in der Welt. Es gab Zeiten, da haben wir mit Deutschland Handelsverträge geschlossen, da haben wir in Deutschland Mercedes-Benz bauen lassen. Aber heute sind wir die Bettler Deutschlands. Heute bringt ein Selbstmordattentäter einen deutschen Kommandanten um, und alle Deutschen halten uns für Terroristen.

12 Gedanken zu “Navid Kermani – Ausnahmezustand

  1. Danke für diese tolle Rezension. Darauf hatte ich schon sehnsüchtig gewartet. Dieses Buch habe ich schon mehrfach im Buchhandel in der Hand gehabt. Jetzt werde ich es mir holen, ich freue mich schon auf die Lektüre. LG Heike

  2. Ein wunderbarer Beitrag, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Vor allem, weil ich mich selbst oft frage, warum in den sogenannten Krisengebieten denn unaufhörlich gekämpft wird. Das mögen die Beteiligten vielleicht besser wissen als jemand der sich das ganze nur im Fernsehen anschaut, da hat Kermani sicher recht, aber das schmälert das Leid der Zivilbevölkerung leider nicht.
    Es ist schade, dass es vielen Menschen so schwer fällt die Menschlichkeit, die wir doch alle gemein haben, hinter all den Schleiern aus Staats- und Volkszugehörigkeit, Religion, Ethnie, etc. zu sehen. Von Europa aus schaut man da mal gerne gen Nahen Osten, etc. und denkt, die kriegen da nix gebacken und merkt gar nicht, dass man sich gerade genauso ignorant verhält, wie die streitenden Parteien, die einander einfach nicht zuhören wollen.
    Mittlerweile gibt es sogar ein paar Leute in meinem Bekanntenkreis, die bei solchen Beiträgen einfach abschalten, aber nur weil in Deutschland der Fernsehbildschirm schwarz wird, ist im thematisierten Gebiet der Krieg nicht aus. Trotzdem kann ich diese Reaktion irgendwie auch verstehen, irgendwann ist das Herz nunmal ausgeblutet, vor allem dann, wenn man weiß von dort wo man lebt, als der, der man ist, wird man den Konflikt nicht schlichten, oft nicht einmal vollends verstehen, das Leid der Menschen nicht lindern können.
    Mich erschreckt es immer wieder zu hören, inwiefern die Industrienationen an diesen gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt sind, wie Kriege geschürt werden und das oft aus niederen, raffgierigen Motiven heraus, die keinen Gedanken verschwenden, an die Situation der Bevölkerung und daran, ob dieser durch beispielsweise einen Machtwechsel wirklich geholfen wird oder ob das nur noch schwerwiegendere Probleme schafft.

    LG, Katarina 🙂

    • Liebe Katarina,

      ja, viele dieser Gedanken kenne ich auch. Ich finde die Diskrepanz immer sehr schwierig, zwischen dem, was man als Zivilbevölkerung weiß und in Kauf nimmt und wie die politische Vorgehensweise des Landes ist. Wenn ich mir ansehe, wieviel Geld wir mit Waffenexporten verdienen, wird mir übel, aber selbst mein Politiklehrer in der Berufsschule sagt dann: „Naja, war ja schon immer so, selbst als ich zur Schule ging, da kann man nichts machen.“ Das sind so Dinge, die ich nicht verstehe und bei denen ich mich auch vehement weigere, sie einfach hinzunehmen. Andererseits ist da eben auch diese Ohnmacht – was sollte man dagegen tun? Demonstrieren? Das stört heutzutage doch niemanden mehr. Ich verstehe auch, wenn man bei den Berichterstattungen den Fernseher ausschaltet. Eben wegen dieser Ohnmacht. Oder weil man irgendwann schon abgestumpft ist, zuviel davon gesehen hat. Aber dennoch finde ich es immer wichtig, sich dennoch damit zu beschäftigen, über die mediale Berichterstattung hinaus, die manchmal eben doch sehr einseitig oder wenigstens nicht sehr informativ ist. Oft lauten die Meldungen ja doch: „…wieder hier ein Anschlag, wieder dort Tote..“, in einen Kontext wird das lange schon nicht mehr gesetzt.

      LG, Sophie

  3. Ich war noch nie in Mainz, aber es hört sich toll an 🙂 Wenn ich an Städtereisen innerhalb Deutschlands denke erschöpft sich meine Kreativität oft in Berlin, Hamburg und München, aber ich merke, es lohnt sich da ein bisschen weiter auszuholen.

    LG, Katarina 🙂

    • Der Kommentar gehörte doch wahrscheinlich woanders hin, oder? Ich habe mir Mühe gegeben, aber ich verstehe ihn irgendwie nicht im Kontext zum Buch oder der Besprechung. Habe ich irgendwo Mainz erwähnt? 😉

      • Ist das schon wieder passiert?! Ich glaub’s nicht. Meine Reader App spinnt manchmal, der Kommentar ist eigentlich für ninespo. Danke, dass Du mich darauf aufmerksam machst. Ich kommentiere dann einfach nochmal. Du kannst den verirrten Kommentar ruhig löschen, der macht ja ohnehin keinen Sinn. LG, Katarina 🙂

  4. Interessant, interessant!

    Man könnte nun weiter medienkritisch argumentieren. Rebellen, die ihre Kalaschnikows in die Höhe halten und „allahu akbar“ schreien, werden in Berichten eher hineingeschnitten, als irgendwelche „Normalos“ respektive Leidtragenden, denen die „politischen“ Machtkämpfe bzw. Interessenkonflikte am Allerwertesten vorbeigehen. Das Schlimme meiner Meinung nach ist, dass sich ein immer weiterer Islam-Hass ausbreitet – nicht nur bei der älteren Generation, die die Hände über den Kopf schlagen, weil in einer deutschen Großstadt eine Moschee gebaut werden soll. „Wie können, die nur…“ Ein schwieriges Thema, bei dem man kaum auf einen gemeinsamen Nenner kommen kann. Mehr Toleranz wäre angebrachter und mehr Abstand zu Medien.

    Werde mir Kermani mal bei Gelegenheit zur Gemüte führen! Danke für den Tipp.

  5. Pingback: Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt | skyaboveoldblueplace

  6. Liebe Sophie,
    nun hab ich grade meine Besprechung dieses beeindruckenden Buches hochgeladen – und kurz vorher beim (viel zu späten) Recherchieren Deine Rezension entdeckt. Die habe ich vorher irgendwie verpasst, sonst hätte ich mein Geschreibsel vielleicht gelassen, denn ich fand grade Deinen Beitrag viel besser, als meinen. Naja, nun ist es raus und ich habe auf alle Fälle Deine Besprechung am Ende meines Posts zusammen mit den anderen Info-Links verlinkt angefügt.
    Liebe Grüsse, Kai

  7. Pingback: Die Sonntagsleserin #KW10 | Literaturen

  8. Die Seite von Navid Kermani kenne ich noch nicht – ich bin gerade noch bei den von Neil Young Getöteten…aber das liest sich interessant und auch wichtig, was Du hier rezensierst. Erinnert mich auch an Ilija Trojanow und die Reisereportagen von Roger Willemsen.

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