Julia Deck – Viviane Élisabeth Fauville

julia deckJulia Deck ist eine französische Autorin. Geboren in Paris studierte sie Literatur, unterrichtete Französisch und besuchte eine Journalistenschule. Heute arbeitet sie bei dem Magazin Livres Hebdo. Viviane Élisabeth Fauville ist ihr Debütroman und erscheint in der Übersetzung von Anne Weber im Wagenbach Verlag.

Sie ist vierzig, Mutter eines Kindes und an einem Scheideweg ihres Lebens angekommen. Ihr Mann hat sie für eine andere, eine jüngere Frau, verlassen, ihre Mutter ist tot. In Viviane verdichtet sich aller Verlust, der sich in einem Menschenleben anhäufen kann. Einzig ihr Kind, das sie stets wie eine Versicherung des Lebens mit sich auf dem Arm trägt, scheint wie ein Symbol der Beständigkeit in einem Leben, das sich in seine Bestandteile auflöst. Und doch …

Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wieder aufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie einen zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.

In Viviane Élisabeth Fauville, geborene Hermant, reift ein grausiger Verdacht, reift die Erinnerung heran, in blinder Wut ihren Psychoanalytiker erstochen zu haben. Diesen rundlichen Mann, der ihr sagte, sie vermeide das Subjekt, der eher gedankenverloren aus dem Fenster starrt und ein liegengebliebenes Kreuzworträtsel im Geiste löst, statt seine Patientin von ihren willkürlich auftretenden Angstzuständen zu befreien. Es ist der 16.November und als sie geht, verteilt sich das austretende Blut ihres Analytikers auf dessen makellosem Hemd.

Der Artikel, der am nächsten Tag, den 18.November, im Parisien erscheint, wirft alle möglichen Probleme auf. Der Zeitung zufolge wurde die Leiche des Arztes erst am Morgen nach seinem Tod gefunden, und das weer von einem Patienten noch von seiner Gattin, sondern von einer rothaarigen und grünäugigen, zudem schrecklich schwangeren Person, die aus L’Argentière-La Bessée im Département Hautes-Alpes stammt und bei der man sich allerdings fragt, was sie da um 6:30 machte.

So makellos wie sein Hemd ist die Lebensführung des Analytikers allerdings mitnichten. In nahezu traumwandlerischen Episoden und der bohrenden Gewissheit, jederzeit von der Polizei überführt zu werden, verabreicht Viviane ihrem zwölfmonatigen Kind Beruhigungsmittel und sucht die Menschen aus dem Umfeld ihres Psychoanalytikers auf, die laut Zeitungsberichten potentiell verdächtig sein könnten. Infolge dieser surrealen Verfolgungen und Begegnungen beginnen sich jedoch Ausgangslage und Erinnerung zu wandeln und die Wirklichkeit nimmt wie durch die Drehung eines Kaleidoskops plötzlich ganz andere Gestalt an.

Julia Decks Roman ist ein kleines Meisterstück. Subtil spielt sie schon allein durch die Erzählperspektive mit den Erwartungen ihrer Leser. Mal wird er direkt angesprochen, als sei er tatsächlich die auf der Flucht vor ihren Erinnerungen befindliche Viviane im Gespräch mit einem Spezialisten, gar einem Analytiker, dann wechselt Deck wieder in die Ich-Perspektive, die Perspektive Vivianes, ein ums andere Mal schält sich aus diesen raffinierten Perspektivwechseln auch ein ‚wir‚ und ‚uns‚ und man sieht sich schon in spektakulärer Komplizenschaft mit dieser Frau, die alles verloren zu haben glaubt.

Bis zuletzt scheint es zweifellos durch die verschwommene Erinnerung Vivianes bewiesen, dass sie in ihrer Verzweiflungen ihren Analytiker Sergant erstochen hat. Doch Julia Deck gelingt es noch in den letzten Zügen, diese Sicherheit in Rauch aufzulösen. Heraus kommt letztlich ein brilliantes Spiel mit Wahn und Wirklichkeit, sprachlich so nüchtern wie gelegentlich scharfzüngig und abgeklärt. Dieses schmale Büchlein ist eine echte Perle, die ein breites Publikum verdient. Ein beeindruckender literarischer Auftakt für Julia Deck!

Deborah Levy – Heim schwimmen

HeimschwimmenDeborah Levy  ist eine britische Schriftstellerin. Bis 1981 besuchte sie das Dartington College of Arts, dann begann sie Theaterstücke sowie Beiträge für Radio und Fernsehen zu verfassen, die großen Anklang fanden. 1986 veröffentlichte sie mit Beautiful Mutants ihren ersten Roman. Heim schwimmen landete 2011 auf der Shortlist des Booker Prizes. Im Früher dieses Jahres ist es, von Richard Barth ins Deutsche übersetzt, auch im Wagenbach Verlag erschienen.

Dichter und Schriftsteller Joe Jacobs, seine Frau Isabel, deren pubertierende Tochter Nina und ein befreundetes Ehepaar fahren in ein Ferienhaus nach Frankreich. Joe und seine Frau haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Isabel ist Kriegsreporterin und dementsprechend häufig überall in der Welt, nur nicht zuhause. Ihre Tochter hat sich an ein Leben ohne ihre Mutter gewöhnt, zwischen ihnen herrscht kühle Distanz. Die Freunde Mitchell und Laura sind mitgefahren, um ihrem ganz eigenen existentiellen Desaster zu entgehen. Mitchell ist hoch verschuldet und die beiden werden ihren Laden für außergewöhnliche und kostspielige Souvenirs aus Afrika und Umgebung bald schließen müssen. Es ist kein Urlaub, wie man ihn sich wünscht, eher ein Alibi-Ausflug, um über all die Risse hinwegzutäuschen, die sich durch die Leben der Protagonisten arbeiten. Kitty Finch ist so ein Riss.

Der Swimmingpool im Garten der Ferienvilla glich weniger einem dieser tristen blauen Pools, wie man sie aus Urlaubsprospekten kennt, als einem Teich. Einem Teich in Form eines Rechtecks, den eine italienische Steinmetzfamilie aus Antibes aus dem Stein gehauen hatte. Der Körper trieb am tiefen Ende, wo das Wasser im Schatten einer Reihe von Pinien kühl blieb.

Splitterfasernackt treibt die rotgelockte Schönheit im Pool, in dem immer wieder zappelnde Insekten verenden. Sie sei Botanikerin, sagt sie und ihre grün lackierten Fingernägel bilden einen interessanten Kontrast zum rötlichen Haar. Ein bisschen extravagant ist sie, seltsam. Sie stottert. Irgendetwas müsse mit der Zimmerbelegung schiefgelaufen sein. Jürgen, der Hausmeister, könne das sicher aufklären, sie warte nur noch auf ein freies Hotelzimmer. Da es keine freien Hotelzimmer im Ort mehr gibt, bietet Isabel Kitty an, zu bleiben und läutet damit die letzte Runde im Kampf gegen unliebsame Wahrheiten ein.

Eigentlich ist Kitty nur gekommen, weil sie Joe bewundert. Sie hat ihr Gedicht mitgebracht, Heim schwimmen heißt es, ob er es nicht einmal lesen und ihr sagen könne, ob sie Potential habe. Kitty ist überzeugt, dass zwischen ihr und dem „Dichterarsch“, wie Mitchell ihn nennt, eine gedankliche Verbindung besteht, die tiefer reicht und intensiver ist als alles andere in ihrem Leben. In gespannter Erwartung freundet Kitty sich mit Nina an, Joe jedoch zögert das Lesen des Gedichts heraus und verdrängt es sogleich nach der Lektüre. Es schreckt Geister der Vergangenheit auf.

Über seine eigene Kindheit oder seine Freundinnen sprachen sie nie ein Wort. Es war weniger eine unausgesprochene, geheime Vereinbarung, eher wie ein klitzekleiner Glassplitter in ihrer Fußsohle, immer da, ein wenig schmerzhaft, aber sie konnte damit leben.

Kitty Finch ist Joes persönliche Verführung. Nicht nur bringt sie ihn dazu, zum wiederholten Male seine Frau zu betrügen, sie bringt ihn auch dazu, eine ganz andere folgenschwere Entscheidung zu treffen. Durch Deborah Levys dichten Roman weht ein Hauch Übersinnlichkeit. Kitty Finch, die geheimnisvolle Frau mit der lockeren Schraube, fungiert als Mahnmal, sie bohrt in den Rissen des Wohlfühlurlaubs und eines Lebens voll gut gehüteter Geheimnisse und eisigen Schweigens. Trotz seiner Kürze ist Heim schwimmen ein Roman mit Nachwirkungen. Viele Fragen lässt er unbeantwortet, viele Gefühle in der Schwebe. Man klappt ihn zu mit dem Gefühl der Betroffenheit, der Verwirrung. Gern hätte er noch einige Seiten länger sein, die einzelnen Figuren noch deutlicher beleuchten können. Aber vielleicht ist er in seiner Momentaufnahme auch am wirksamsten und eindrucksvollsten. In jedem Falle ein Roman, der sich aufgrund seiner intensiven und nahezu beklemmenden Atmosphäre zu lesen lohnt und die Frage aufwirft, ob nicht für uns alle irgendwann eine Kitty Finch kommt, die, ein bisschen unbedarft und ein bisschen boshaft, in unseren Wunden bohrt.

Eine weitere interessante Besprechung zu Deborah Levy findet ihr auf Buzzaldrins Bücher.