Ein Interview mit Bodo Wartke

Bodo 1

(c) Nele Martensen

In Fortsetzung zu meinem gestrigen Artikel über König Ödipus, in der Fassung von Sophokles und Klavierkabarettist Bodo Wartke hier nun ein Interview mit dem Grandmaster Ödipus Rex. Bodo Wartke wurde am 21. Mai 1977 in Hamburg geboren und wuchs in Reinbek und Bad Schwartau auf. (Ja, die Stadt mit der Marmelade!) Nach einem nahezu als experimentell zu bezeichnenden Physikstudium für einige Semester schwenkte er zu Musik um und studierte an der Universität der Künste in Berlin. Bodo Wartke war bis 2004 Mitglied bei der von Christof Stählin initiierten Liedermacherakademie SAGO. 1996 hatte er seinen ersten abendfüllenden Bühnenauftritt an seiner alten Schule in Bad Schwartau, mittlerweile tourt er mit seinem vierten Klavierkabarettprogramm Klaviersdelikte und seinem 1-Personen-Ödipus quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.

Hallo Bodo, ich freue mich sehr, dass du dich zu diesem Gespräch bereit erklärst und ein bisschen deiner Zeit für mich opferst!
BW: Sehr gerne.

Mit König Ödipus hast du dich ja einer klassischen antiken Tragödie angenommen, in Arbeit ist auch Antigone, also quasi die Fortsetzung der Ödipusgeschichte. Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass es ausgerechnet die Tragödien sind, angesichts all der Pflichtlektüren der gymnasialen Oberstufe?
BW: Die griechische Götter- und Sagenwelt hat mich schon immer fasziniert, zudem sind die meisten Tragödien einfach packende Geschichten. Was mich speziell an Ödipus interessiert hat, ist die Gestaltung der Figur. Ödipus hat die Größe, sein Schicksal anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Das ist einfach eine integere Figur mit all ihren Fehlern und Vorzügen. Oder nimm Schiller. In seinen Dramen treten Menschen für ihre Ideale ein und sind bereit den Preis zu zahlen, im schlimmsten Fall nehmen sie auch den eigenen Tod in Kauf.

Was hat dich an König Ödipus besonders gereizt?
BW: Sophokles gelingt mit seinem König Ödipus ein grandioses Stück Literatur. Er gestaltet die Handlung dramaturgisch so fesselnd, – und das ist eigentlich paradox -, denn obwohl wir wissen, wie die Geschichte enden wird, warten wir gebannt auf die Auflösung. Das ist wirklich genial.

Wie haben deine Mitschüler denn damals auf deinen Plan reagiert, das Ganze in eine Art lyrisches Musical zu verwandeln?
BW: Das Stück war ja zu Schulzeiten noch nicht fertig. Ich hatte damals nur eine Szene, die in meinem ersten abendfüllenden Konzert 1996 in meiner Schule zur Aufführung kam, mit meinem Freund Henning als Teiresias und Kreon.

Hat die Arbeit an König Ödipus über die Jahre deine Vorstellung von Schicksal verändert?
Glaubst du an Schicksal oder eher an Zufälle?

BW: Weder das eine noch das andere. Manchmal bin ich geneigt, an Schicksal zu glauben, aber dann denke ich wieder, dass die Dinge zufällig geschehen. Wichtiger finde ich die Frage, wie gehe ich mit dem um, was passiert, sei es Schicksal oder Zufall.

Bodo 2

(c) Nele Martensen

Gab/Gibt es auch andere (Schul)Lektüren, von denen du dir hättest vorstellen können, sie etwas zu modernisieren?
BW: Nein, von den verschiedenen Schullektüren hat mich keine Geschichte so gepackt, wie die von Ödipus. Während der Erarbeitung meiner Ödipus-Fassung entstand allerdings die Idee, auch eine Bearbeitung der Antigone zu dichten.

Gab es Lektüren, abgesehen von König Ödipus, durch die du dich in der Schule eher gequält hast? Für viele ist ja ‚Effi Briest‘ so ein Paradebeispiel. Für mich war das ‚Iphigenie auf Tauris‘.
BW: Ich habe mich nicht wirklich durch den König Ödipus gequält, die Faszination überwog schon deutlich, der altertümlichen und teils schwierigen Sprache zum Trotz, sonst wäre mein Solo-Stück nie entstanden. Was ich tatsächlich nie zu Ende gelesen habe, war ‚Bergkristall‘ von Adalbert Stifter – entsetzlich langweilig.

Wie muss, deiner Meinung nach, ein klassischer literarischer Stoff beschaffen sein, damit er auch heute noch Menschen berührt? Wo kann man da in der Bearbeitung ansetzen?
BW: Das Zusammenspiel aus Form und Inhalt muss für mich stimmen. Für den Inhalt wünsche ich mir eine Handlung, die spannend und in sich schlüssig ist sowie integere Figuren. Und die Form sollte so beschaffen sein, eben diesen Inhalt erfassen zu können. Sprich, wenn zum Beispiel gesungen wird, sollte so gesungen werden, dass der Text verstanden werden kann. Aus diesem Grund tue ich mich mit der Gattung Oper sehr schwer.

Wo und wann schreibst du am liebsten (Lieder, Stücke, Gedichte)?
BW: Ich schreibe aus dem Affekt heraus. Vieles entsteht im Zug, da ich nun mal viel mit der Bahn unterwegs bin. Das Schreiben plane ich nicht, meistens findet es mich. Die Ideen kommen zu mir, wann sie wollen. Da ich nie weiß, wann und wo sie das tun, habe ich immer Stift und Notizblock dabei. Blöd ist, wenn ich Ideen in der Sauna habe.

Viele deiner Lieder, ich denke da zum Beispiel an „90 Grad“ oder „Sie“, sind sehr poetisch, selbst ohne Musik kleine lyrische Perlen. Gibt es Lyrik, die dich begeistert?
BW: Mich begeistert Lyrik, die sinnlich ist, im Sinne von: die alle Sinne anspricht. Ich mag es sehr, wenn genau beschrieben wird, wie sich etwas anfühlt, riecht oder schmeckt, sodass ich es quasi nachfühlen kann und aus meiner Erinnerung wachrufen kann. Christof Stählin und Theodor Kramer sind Poeten, die das glänzend beherrschen.

Zuletzt noch eine Frage, thematisch zum Blog – was liest du gerade/gerne oder kommst du dazu womöglich gar nicht mehr?
BW: Tatsächlich lese ich gerade „Antigone“ in der Übersetzung von Kurt Steinmann. Er hat mir seine Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung gestellt, und immer wenn ich Zeit habe, lese ich darin.

Vielen lieben Dank für das Interview!
BW: Gern geschehen!

Weitere Informationen über Bodo und sein Schaffen findet ihr unter http://www.bodowartke.de!

Sophokles feat. Bodo Wartke – König Ödipus

BodoSophoklesZum heutigen Welttag des Buches von mir ein kleines Schmankerl, wie man so schön sagt. Ich schätze und achte klassische Literatur, habe ich schön öfter im Brustton der Überzeugung gesagt. Meine Beschäftigung mit antiken Tragödien war bisher nicht soweit gediehen, dass ich mir zugetraut hätte, eine solche hier näher zu thematisieren. Das hat sich nun, dank Sophokles, Bodo Wartke und König Ödipus aber grundlegend geändert. Obwohl ich niemals ein akuter Schullektürenverweigerer war, gab es doch Pflichtlektüre, die mir näher stand als die Tragödie. Iphigenie auf Tauris war für mich damals lediglich aufgeladen mit Pathos, den ich nicht verdauen konnte. In meinem Bericht zu Bodo Wartkes DVD-Aufzeichnung habe ich König Ödipus bereits einfließen lassen, jetzt soll es auch ganz konkret um die Textfassung(en) gehen. Ich habe mir Sophokles‘ Ödipus vorgenommen und die Neudichtung von Bodo Wartke, um im Folgenden beide in Teilen gegenüberzustellen. Ich gehöre nicht zu denen, die mit König Ödipus in der Schule zu tun hatten, dementsprechend ging ich vermutlich wesentlich unbelasteter an die Lektüre als manch anderer. Wo sind die beiden Fassungen gleich, wo unterscheiden sie sich und weshalb ergibt es eigentlich noch immer Sinn, sich mit König Ödipus zu befassen? (mal abgesehen von der Erklärung des Ödipuskomplexes)

leidvoll

… sagte Friedrich Nietzsche.

Die grobe Geschichte um König Ödipus ist vermutlich vielen noch ein Begriff, rudimentär aus der Schulzeit jedenfalls. Der neugeborene Ödipus wird von seinen Eltern, Laios und Iokaste, aufgrund einer Prophezeiung des Orakels von Delphi im Gebirge ausgesetzt. Er würde eines Tages nicht nur seinen Vater ermorden, sondern auch seine Mutter heiraten. Wer geht mit einem solchen Schicksal schon gelassen um? Zur damaligen Zeit war so ein Orakelspruch nicht etwa eine Möglichkeit von vielen, sondern eine feststehende Größe im Lebenslauf. Und so versuchten beide Seiten, Ödipus und seine Eltern, zu unterschiedlichen Zeiten dieser Vorsehung auf unterschiedliche Weise aus dem Weg zu gehen. Ödipus überlebt den Mordversuch seiner Eltern und gelangt nach Korinth, wo er von Polybos und Merope adoptiert und aufgezogen wird wie ihr eigenes Kind. Als ER vom Orakel erfährt, was ihm vorherbestimmt ist (nachdem ihm so ein besoffener Korinther einen Tipp gegeben hat), flieht er vor seinen Eltern, freilich im festen Glauben, Polybos und Merope wären seine leiblichen Eltern. Er irrt in der Gegend umher, trifft auf seinen leiblichen Vater (den er freilich nicht erkennt) und erschlägt ihn im Streit. Auf seinem Weg gelangt er auch nach Theben, vor dessen Toren die Sphinx liegt. Vermutlich hat sie vor Ödipus Ankunft schon unzählige Thebaner verspeist, denn das tut sie für gewöhnlich, wenn die das Rätsel nicht lösen, das sie jedem Vorbeikommenden stellt. Ödipus löst es und erhält dafür die Hand der Königswitwe Iokaste. Seiner Mutter. Mit der er vier Kinder zeugt, Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene.

So weit, so gut. Dieses grobe Gerüst findet sich selbstverständlich in beiden Fassungen, doch die Tragödie selbst ist unterschiedlich aufgebaut. Einer der größten und auffälligsten Unterschiede ist mit Sicherheit, dass die von antiken Dichtern so geheiligte Einheit von Zeit und Ort von Bodo Wartke aufgehoben wird. Hatte man sich als Dichter der Antike einmal für einen Spielort entschieden, durfte der im gesamten Drama nicht mehr verändert werden. Auch Zeitsprünge waren ein absolutes No-Go, sodass die Erzählzeit auch gleich der erzählten Zeit entsprach. Diese Vorgabe löst Bodo Wartke zugunsten einiger Szenen auf, die bei Sophokles lediglich als weit zurückliegende Ereignisse erwähnt werden. So zum Beispiel Ödipus‘ Begegnung mit der Sphinx.

SPHINX: Buh!
ÖDIPUS: Uah! Krass! Hast du mich erschreckt!
SPHINX: Ich weiß. Denn ich komm ja auch direkt
aus der Unterwelt, dem Hades,
und frage dich: Quo vadis?
ÖDIPUS: Bist du nicht die Dings?
SPHINX: Die Sphinx.
ÖDIPUS: Ja, genau. Mein ich ja. Die Sph… Phs… Fsf..
SPHINX: Sphinx!
ÖDIPUS: Sph…fsf…
SPHINX: Wie „Pfingsten“ mit „s“.
ÖDIPUS: Spfings.
SPHINX: Allerdings, ich bin die Sphinx.
Und wer bist du?
ÖDIPUS: Ich? Ödipus.
SPHINX: Und mit Nachnamen?
ÖDIPUS: Rex.
SPHINX: Ah, Ödipus Rex. Na, ich könnt mir vorstellen, dass du ziemlich lecker schmeckst.

Bei Bodo Wartke löst Ödipus das Rätsel der Sphinx mehr zufällig und unbeabsichtigt, was dem Ganzen eine herrlich humoristische Note verleiht. Ödipus ist schließlich noch sehr jung, unerfahren und aufsässig, doch mit dem Sieg über die Sphinx beginnt für ihn ein ganz anderer Lebensabschnitt. Er wird Herrscher von Theben und dieser Aufgabe, glaubt man Sophokles, auch völlig gerecht. Er hat danach bei den Thebanern gewissermaßen ’n Stein im Brett, wie man so schön sagt.

Nun für göttergleich zwar achten wir dich nicht,
nicht ich, nicht diese Kinder, die wir an diesem Herde
sitzen,
doch für der Männer Ersten in des Lebens
Wechselfällen und in den Begegnungen mit Göttern

…spricht Thebens Priester, als die Pest in der Stadt grassiert und die Thebaner wie die Fliegen sterben. In beiden Versionen dieser Szene bemerkt man deutlich, welche Stellung Ödipus in der Stadt innehat. Während sie bei Sophokles die erste Szene darstellt, behält Wartke die Chronologie bei, was dem Stück, für meine Begriffe, noch mehr Tiefe verleiht. Auf der Bühne wird diese Szene überdies im Falle Wartkes mit einer herrlichen Musikeinlage garniert, bei Sophokles gibt es einen Chor. Der Chor fungiert gewissermaßen als Zusammenfasser, als Zeitraffer, als Klammer um und Verbindung zwischen den Ereignissen. Bei Bodo Wartke übernimmt das ein neu eingeführter Sprecher, der (auf der Bühne), mal am Klavier, mal nicht, die Geschehnisse dem Publikum vermittelt.

Dieser Sprecher übernimmt, besonders im ersten Teil, die wichtige Funktion, den Leser und das Publikum an der Hand durch eine ziemlich lange Zeitspanne zu führen, die es bei Sophokles in dieser Form gar nicht gibt. Ein sehr cleverer und geschickter Schachzug, der das Stück um einiges lebendiger erscheinen lässt. Sophokles‘ Stück ist wie ein Krimi, in dem man sich immer weiter der Katastrophe annähert, die man ja bereits kommen sieht. Der einzige, der sie nicht sieht, ist Ödipus selbst. Das Orakel von Delphi hatte Kreon, dem Bruder von Iokaste, auf dessen Frage, wie Theben nur die Pest besiegen könne, Folgendes geantwortet (links Bodo Wartkes Fassung, rechts Sophokles)

KREON: Die Pest wütet in Theben!
ORAKEL: Ja, auch das weiß ich schon längst.
KREON: Und was können wir tun?
ORAKEL: Ja, nun –
Ich find ja‘, du bist Ödipus und Laios ziemlich ähnlich.
KREON: Inwiefern?
ORAKEL: Die Fragen, die ihr stellt, sind alle ganz schön dämlich.
Und außerdem tragt ihr alle drei echt fesche Mützen.
KREON: Und was kann uns jetzt bitte vor der Pest beschützen?!
ORAKEL: Gemach, gemach!
Ich schau mal nach.
Nobody knows the trouble I’ve seen.
Nobody knows but Jesus.

KREON: Wer?
ORAKEL: Kennste nicht.
Nobody knows the trouble I’ve seen.
Glory Halleluja.
KREON: Mann! Wieso dauert das so lang?
ORAKEL: Ich hab halt schlechten Empfang.
Nobody kno…
Ah, jetzt, ja! Jetzt sehe ich es klar.
Den Mörder des Laios gilt es zu finden
Dann wird aus Theben die Pest verschwinden.
Als Strafe – so lautet des Apoll Gebot –
verdient er nichts Geringeres als Ächtung oder Tod.

KREON: So will ich sagen, was ich von dem Gott gehört:
Es befiehlt uns Phoibos klar, der Herr,
des Landes Schandfleck, als auf diesem Erdenstück
genährt, hinauszujagen, nicht bis unheilbar er wird, ihn
fortzunähren.
ÖDIPUS: Durch welche Reinigung? Wie können wir ihn tilgen?
KREON: Durch Ächtung oder Sühne, die Tod mit Tod vergilt,
da dieses Blut sturmgleich erschüttere die Stadt.

Diese Szenen sind nicht nur ein deutliches Beispiel dafür, dass wir bei Wartkes Fassung direkt am Geschehen teilhaben, während Sophokles seine Protagonisten nur davon berichten lässt, wir sehen auch die Sprache im direkten Vergleich. In der deutschen Übersetzung von Kurt Steinmann spielt auch die Anlehnung an die Syntax des Altgriechischen eine Rolle. Man wollte so nah wie möglich am Original bleiben, was sicherlich lobenswert ist, die Sprache aber andererseits für den Laien noch antiker (!) und verworrener erscheinen lässt.

Laios Mörder muss also gerichtet werden, um Theben von der Pest zu befreien. Wir als Leser wissen, dass es sich bei diesem Meuchler um Ödipus handelt, er aber sieht es nicht, selbst, als der blinde Seher Teiresias, dem ähnliche Fähigkeiten wie dem Orakel nachgesagt werden, ihm diese furchtbare Wahrheit und damit die Erfüllung der Prophezeiung verkündet, will er davon nichts wissen. Auch hier schmerzlich-ironische Metaphorik – der Blinde sieht, während der Sehende ganz offensichtlich blind für das ist, was um ihn geschieht.

TEIRESIAS: Des Mannes Mörder, den du suchst, sag ich, bist du. (hier verwendet Bodo Wartke ein Originalzitat!)

Schlussendlich, nach einiger Weigerung und dem Verdacht, sein engster Vertrauter Kreon habe gegen ihn intrigiert, um den Königsthron zurückzuerhalten, erkennt Ödipus, dass die Prophezeiung sich erfüllt hat. Er hat seinen Vater an der Kreuzung dreier Wege erschlagen, er hat seine Mutter zur Frau genommen. Vollkommen betäubt und rasend vor Verzweiflung sticht sich Ödipus die Augen aus.

ÖDIPUS: Iu! Iu! Das Ganze wäre klar heraus!
Oh Licht, zum letzten Mal will ich dich schauen jetzt.
Es trat zutage: Entstammt bin ich, von wem ich nicht
gesollt, verkehr, mit wem
ich nicht gesollt, und hab erschlagen, wen ich nicht
gedurft!

Bodo Wartke gelingt es in seinem Text, trotz allen Humors, der davor vielfach durchschimmerte, in diesen Momenten der Auflösung die Tragik und Dramatik, die damit einhergeht, völlig überzeugend abzubilden. War man zuvor noch versucht, hier und da zu schmunzeln über diese Leichtfüßigkeit und den neuzeitlichen Anstrich, spürt man hier genau die schwere Bürde, die auch bei Sophokles spürbar wird. Man hat tiefes Mitgefühl mit diesem Ödipus, der plötzlich vielmehr wie ein Spielball des Schicksals erscheint statt als selbstbestimmter Mann. Und genau hier setzt der aktuelle Bezug an, den man noch heute in diesem Drama entdecken kann. Wie weit denke ich in die Zukunft? Ödipus ist, nachdem er die Prophezeiung erhält, völlig geblendet von seiner Angstphantasie. Er flieht vor seinen Eltern, um ihnen nicht zu schaden und setzt damit, gleich nach seinen leiblichen Eltern, die Abfolge von Ereignissen in Gang, die letztlich zur Bewahrheitung der Prophezeiung führen. Das ist ein Moment im Drama, sowohl bei Wartke als auch bei Sophokles, in dem ich denke: Es schmerzt fast, das zu sehen. Hierfür ist der Begriff Ironie des Schicksals erfunden worden. Indem ich mein Schicksal zu vermeiden versuche, sorge ich dafür, dass es eintritt.

Glossar

Glossar von Til Tessin

Letztlich ist dieses ganze Drama ein riesiges und unüberhörbares Plädoyer für das Leben im Jetzt, nicht in irgendeiner fernen Zukunft, von der wir nicht einmal wissen, ob sie eintritt. Und ob wir sie nicht, wenn sie eintritt, noch verändern können. Es gibt unzählige Abhandlungen über König Ödipus, den Schicksalsbegriff und viele andere Motive, die sich in dieser Tragödie spiegeln. Für Bodo Wartkes Fassung gibt es auch ein Programmheft, in dem Mitwirkende, darunter Bodos Regisseur Sven Schütze und die Dramaturgin Carmen Kalisch von der Arbeit am Stück berichten und erzählen, worauf es ihnen in der Bearbeitung ankam. Außerdem präsentiert der Psychotherapeut Klaus Schlagmann eine weitere interessante Deutung des Ödipus-Mythos (der ja älter ist als Sophokles‘ Drama) auf vielen Ebenen. Schon das Programmheft selbst wäre dementsprechend in der weiterführenden Beschäftigung mit dem Thema sehr lohnenswert! Im Anhang der Textfassung selbst befindet sich ein Glossar von Til Tessin, das, mal augenzwingernd und mal ganz ernst, versucht, Begrifflichkeiten zu klären und den Text an den Stellen verständlicher zu machen, an denen man möglicherweise noch stolpert.

Schlagmann

Klaus Schlagmann – Ödipus komplex betrachtet

Nach der Lektüre beider Werke, beider Fassungen, habe ich nicht nur bedeutend mehr Zugang zur antiken Tragödie, sondern auch meinen Eindruck bestätigt gefunden, dass klassische Werke der Literatur nicht etwa durch die Jahrhunderte geschleppte Verwundete sind, die man besser am Wegesrand zurückließe, sondern Werke, in denen immer noch etwas für unser heutiges Leben zu entdecken ist. Sind wir mit unseren Gedanken nicht auch manchmal viel zu sehr in der Zukunft? Versäumen wir dadurch nicht auch viel zu häufig, zu leben und anzunehmen, was jetzt ist, statt zu fürchten, was sein könnte? Sophokles Tragödie ist eine bravouröse Bearbeitung des alten Mythos, Bodo Wartkes Übertragung in die Neuzeit eine künstlerische Glanzleistung, die vermutlich auch dem Stück selbst mittlerweile zu neuem Ansehen verholfen hat. Beides sind absolut sehens – und lesenswerte Kunststücke, die jeweils ihre ganz eigenen Vorzüge haben! Wer kann, lese beides, vielleicht auch parallel, so wie ich! Zum Stück selbst und der klassischen Literatur im Besonderen wird aber auch Bodo Wartke selbst noch etwas sagen können! Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, mir ein kleines Interview zu geben, das morgen hier zu lesen sein wird. Informationen zum „Ödipus-Projekt“ von Bodo Wartke finden sich auch hier.

Das Schlusswort hat an dieser Stelle, thematisch passend, – Tom Lehrer.